Testosteronmangel: Auslöser der kulturellen Entwicklung?

Testosteronmangel: Auslöser der kulturellen Entwicklung? (Quelle: David Carillet/shutterstock.com)
Der moderne Mensch in Form des Homo sapiens existiert seit ungefähr 200.000 Jahren – so ist zumindest der aktuelle Stand der Dinge. Es ist allerdings erst ungefähr 50.000 Jahre her, seit sich der Mensch in großen Schritten kulturell weiterentwickelt. Fortschrittliche Werkzeuge, die gesprochene Sprache, Kunst, Ackerbau und Viehhaltung sind nur ein paar Auswüchse dieser Entwicklung.
Nun stellt sich allerdings die Frage, wieso der Mensch circa 150.000 Jahre nur gelebt hat, um zu überleben. Wieso ist erst ab einem bestimmten Zeitpunkt die Kultur entstanden?
Im August 2014 ist dazu eine interessante Studie in der renommierten Fachzeitschrift Current Anthropology veröffentlicht worden: Demnach habe ein sinkender Testosteronspiegel dazu geführt, dass der moderne Mensch eine richtige Kultur entwickelt hat. Der sinkende Testosteronspiegel wurde dabei anhand von feineren Gesichtszügen aus fossilen Funden dieser Zeit erklärt.
Über die Studie von Cieri et al.
Insgesamt wurden für die Studie circa 1.400 menschliche Schädel (Homo sapiens) untersucht und vermessen. Die Schädel stammten aus verschiedenen Epochen der letzten 200.000 Jahre und umfassten verschiedenste ethnische Zugehörigkeiten.
Als Ergebnis kam dabei heraus, dass der Schädel des modernen Menschen im Laufe der Zeit weicher bzw. femininer geworden ist. Es konnten folgende Beobachtungen gemacht werden:
- Rückgang der Überaugenwülste
- Verkürzung des oberen Gesichtsbereiches
- Insgesamt ein runderer Schädel
Für das Forscherteam um Cieri et al. ist dies ein klares Indiz dafür, dass der Testosteronspiegel im Blut im Laufe der Zeit gesunken sein muss. Bereits frühere Studien haben sich mit dem Zusammenhang der Schädelform und des Testosteronspiegels auseinandergesetzt und diesen bewiesen.
Wieso sollte Testosteron unsere Kultur beeinflussen?
Das männliche Sexualhormon Testosteron steht im Zusammenhang mit Charaktereigenschaften wie Durchsetzungsvermögen, Dominanz, Aggressivität und sexuellem Verlangen. Es führt tendenziell eher dazu, dass man sich unsozial verhält und mit anderen Menschen weniger gut klarkommt.
Es ist beispielsweise allgemein bekannt, dass Frauen eher sozialer veranlagt sind und sich besser zusammenrotten können, um gemeinsam Ziele zu erreichen. Frauen sind kooperativer.
Die Forscher sprechen hierbei von einem kooperativen Temperament. Erst die Möglichkeit zur Zusammenarbeit habe den Menschen als Art erfolgreicher gemacht und infolgedessen zu Kultur und Weiterentwicklung geführt. Wieso sollte ein Einzelkämpfer Kunst schaffen, wenn er sie niemandem präsentieren kann?
Verhalten von Menschenaffen spricht für die Theorie
Wenn man Bonobos mit Schimpansen vergleicht, dann klingt die hier vorgestellte Theorie noch einleuchtender als sie ohnehin schon ist.
Bonobos bzw. Zwergschimpansen (Pan paniscus) sind im Vergleich zu Schimpansen sehr friedfertig und haben eine eher zierliche Statur. Ihre Überaugenwülste sind deutlich schwächer ausgeprägt als beim Gemeinen Schimpansen. Bonobos leben in Gruppen von bis zu 120 Tieren, wobei die Geschlechterverhältnisse recht gleichmäßig sind. Die Gruppen gelten als äußerst stabil.
Der Gemeine Schimpanse (Pan troglodytes) ist aggressiver und robuster gebaut. Er verfügt über sehr ausgeprägte Überaugenwülste. Der Gemeine Schimpanse lebt in Gruppen von bis zu 80 Tieren, die instabiler sind und intern aggressivere Tendenzen aufweisen.
Der Testosteronspiegel beim Gemeinen Schimpansen ist dabei deutlich höher – vor allem während der Pubertät und wenn das Tier unter Stress steht.
Theorie bleibt Theorie
In der Paläontologie gibt es ein großes Problem: Man kann Theorien – wie die hier vorgestellte – nicht beweisen. Man kann lediglich alle Daten, die einem zur Verfügung stehen, auswerten und das Beste daraus machen. Nichtsdestotrotz finden wir die Theorie über den Zusammenhang zwischen Kultur und Testosteronmangel recht einleuchtend.
Es gibt jedoch noch weitere Theorien, die die kulturelle Entwicklung des Menschen erklären könnten – beispielsweise eine höhere Bevölkerungsdichte oder die stetige Weiterentwicklung der sprachlichen Fähigkeiten.